Gesellschaftsdiagnose als Interpretationsangebot und Aufforderung

 

1. In der Wissenschaftstheorie wird üblicherweise zwischen den 'strengen', den 'formalen' Wissenschaften und dem Rest, in dem sich u.a. die Sozialwissenschaften befinden, unterschieden. Was dem Rest, dieser Unterscheidung nach, fehlt sind strenge Gesetzesaussagen und eine Methodenexplizitheit, die es, wenn schon nicht wie in Logik, theoretischer Informatik oder Mathematik, dann doch in den Naturwissenschaften gibt. So beschrieben erscheinen die Sozialwissenschaften - von der Literaturwissenschaft ganz zu schweigen - als ein Mangelphänomen. Ihr weniger gesetzesartiger Charakter mag indessen gerade angemessen sein bezüglich ihres vornehmlichen Gegenstandes: menschlichem Handeln und seinen Objektivationen und Institutionen. Menschliches Handeln mag gemessen an einem an den formalen Wissenschaften oder der Physik entwickelten Theoriebegriff nicht theoriefähig sein. Das ist zunächst weder positiv noch negativ, sondern verweist darauf, dass ein Interesse, hier etwas allgemeiner zu verstehen, andere Methoden entwerfen und verwenden muss als eben in diesen Wissenschaften.

 

2. In einer Gesellschaftsdiagnose geht es um eine rechtfertigungsfähige Darstellung und Erläuterung sozialer Strukturen und Vorgänge. Es geht, insofern hier die Standards naturwissenschaftlicher Prägung nicht anwendbar sind und auch empirische Sozialforschung diese nicht ersetzt, auch um eine Interpretation der sozialen Realität, also einen Entwurf, der auch an Plausibilität appelliert. Gesellschaftsdiagnose schlägt eine Interpretation vor. Diese Interpretation verbindet sich mit den gewählten Grundbegriffen (etwa wenn die Gesellschaft beschrieben und erläutert wird als 'Risikogesellschaft' oder 'Erlebnisgesellschaft'). Die Rezipienten sind aufgefordert zu prüfen, ob sich die Gesellschaft so beschreiben lässt und inwiefern eine Beschreibung im gewählten Begriffsrahmen ein Gesamtverständnis grundlegender Strukturen und Tendenzen der Gesellschaft erleichtert und befördert. Ein Interpretationsrahmen kann sich bewähren nicht nur in seinen Prognosen, sondern auch in seiner Erweiterbarkeit bezüglich neuer Entwicklungen. Scheitern kann ein Interpretationsrahmen an der Nichteinbeziehbarkeit wichtiger Elemente der sozialen Wirklichkeit bzw. der Relegation entsprechender Phänomene an den Rand. Gegeben die Komplexität der modernen Gesellschaften kann eine Gesellschaftsdiagnose auch ein Puzzle sein, dessen Teile nicht völlig ineinander greifen. Es liegen dann Teilinterpretationen vor, die immer noch von Nutzen sein können. Die verwendeten Begriffe sollen eine historische Situation erfassen. So wenig wie Gesellschaftsdiagnose Naturwissenschaft ist, so wenig kann sie essentialistische Erkenntnis aus reiner Begriffsanalyse sein. Die Gesellschaftsdiagnose braucht Grundbegriffe, sie sie sogar explizit definieren mag. Doch können solche Definitionen nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmen, eher müssen wiederholt bessere aktuelle Begrifflichkeiten für veränderte gesellschaftliche Situationen gefunden werden. Aus der Betrachtung der Gesellschaft lassen sich noch weniger als Naturgesetze Wesensgesetze erkennen, höchstens Trends und Korrelationen zwischen Strukturmerkmalen der Gesellschaft. 'Strukturmerkmale' sind Merkmale, welche andere Merkmale bedingen und diese Bedingungsverhältnisse sind nicht zufällig. Das Benennen entsprechender Strukturen (etwa 'das Warenverhältnis') trägt zentral bei zur Interpretation und Erläuterung, damit ergeben sich indessen keine Wesensgesetze als (im engeren Sinne) analytische Herleitungen. Gesellschaftsdiagnose steht so im Spannungsverhältnis, einen Begriffsrahmen an die gesellschaftliche Wirklichkeit anlegen zu müssen, der nicht einfach aus empirischer Forschung hervorgeht, und zu vermeiden, die Realität den Begriffen anzupassen. Wesensphilosophien scheitern auch schnell in der Beurteilung von Strukturverschiebungen, die für sie als Wesensänderungen, die ja eigentlich unmöglich sind, auftreten. Für eine fluide Gesellschaftsdiagnose modifiziert sich in diesem Fall die Gesellschaft in ihren Strukturen und ihre Tendenzen verschieben sich.

 

3. In einer Gesellschaftsdiagnose geht es des Weiteren um eine Art von Theorie der Gesellschaft, die nicht wertneutral ist, sondern 'kritisch' als die gesellschaftliche Realität an moralischen Maßstäben gemessen wird, selbst wenn Politik nicht einfach umgesetzte Moralität ist. Gesellschaftsdiagnose fordert damit zur Veränderung der von ihr diagnostizierten Missstände auf. Auch hier spielen die gewählten Grundbegriffe eine Rolle. Benutzt man zentral Begriffe wie 'Ausbeutung' oder (hedonistisches) 'Erlebnis', dann schließt dies eine Kritik der so beschriebenen Handlungen ein. Die normative Grundlage kann jedoch (nach obigen Zurückweisen der sozialen Wesensphilosophien) nicht allein in den Grundbegriffen liegen. Es bedarf einer die konkrete Diagnose transzendierenden ethischen Grundlage, die Maßstäbe artikuliert (wie etwa 'die Grundrechte'), sodass sich die Kritik daran bemisst, inwiefern die bestehenden Verhältnisse dazu tendieren, diese Richtwerte zu verfehlen.

 

4. Eine informierte Gesellschaftsdiagnose muss sich noch stärker mit den empirischen Sozialwissenschaften befassen als die Sprachphilosophie mit der Linguistik, denn sie will in Kontinuität mit diesen empirischen Sozialwissenschaften und deren Theoriebildung die politische Gegenwart erfassen. Ihr Begriffsrahmen muss in der Lage sein, gegenwärtige Entwicklungen zu interpretieren. Zugleich muss sie historisch konstante menschliche Gewohnheiten zur Kenntnis nehmen. Bezüglich ihres Aufforderungscharakters sollte sie mit den Menschen, wie sie sind, und nicht wie sie rein spekulativ entworfen werden mögen, zu recht kommen. Es geht der Gesellschaftsdiagnose nicht um eine Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialwissenschaften, sondern um eine informierte Interpretation der politischen Gegenwart. Gegenüber der Theoriebildung in den Sozialwissenschaften mag sie vielleicht (a) darauf verweisen, dass sie als nicht-einzelwissenschaftlich den oft begrenzten Horizont entsprechender Analysen überschreitet, indem sie mehrere dieser Einzelwissenschaften im Blick hat und sich von der jeweils engen methodischen Führung löst. Sie mag (b) ihre Betrachtungen direkter an normative Grundlagen anschließen. Insofern normative Fragen nicht an Einzelwissenschaften verwiesen werden können, besitzt sie damit einen originären Ansatz. Damit läuft die Rolle der (philosophischen) Gesellschaftsdiagnose auf eine zwar normativ fundierte aber zugleich spekulativ-interpretatorische Betrachtung der Gesellschaft hinaus.

 

5. Damit verbindet die Gesellschaftsdiagnose Elemente einer lebensweltlichen Philosophie, deren Rolle in Interpretationsleistungen und Horizontfragen liegt mit Elementen der Sozialforschung. Sie tritt in der Regel kontrovers und verkürzend auf, da die erforderliche allgemeine Erfassung der gesamtgesellschaftlichen Realität von einzelnen Forschern und Autoren kaum mehr leistbar erscheint, oder höchstens auf einen entsprechend allgemeinen und plakativen Niveau. Geboten wird ein Interpretationsansatz, der sich empirisch illustriert und auf relativ allgemeine Prognosen festlegt. Geboten wird eine distanzierte Zusammenschau einzelsozialwissenschaftlicher Betrachtungen in einem allgemeinen anthropologischen Rahmen. Gewünscht wird eine Interpretation, welche sich nicht in wissenschaftlichen Details verliert.

 

6. Neben der Selbstverständigung einzelner dient eine solche Gesellschaftsdiagnose vornehmlich der Selbstverständigung politisch kollektiver Akteure. Dies lässt sie auf der einen Seite praktisch werden, auf der anderen Seite erhält sie so ein identitätsstiftendes Gewicht, das wieder ihren wissenschaftlichen Charakter abschwächt. Eine Gesellschaftsdiagnose ohne eine solche Einbettung steht in ihrer Glaubwürdigkeit ebenso in Frage wie eine folgenlose 'angewandte Ethik'. Ihren Aufforderungscharakter ernst zu nehmen, verlangt dabei zunächst die Zurückweisung zugeschriebener Beliebigkeit solcher Interpretationen. Diese zugeschriebene Beliebigkeit erwirkt eine Depotenzierung einer kritischer Interpretationen als einer unter vielen, über die man sich interessiert informieren und aus denen man - mutmaßlich nach subjektiven Vorlieben - auswählen kann. Des Weiteren richtet sich an sich ernst nehmende Gesellschaftsdiagnose über ein Fachpublikum hinaus an die politische Öffentlichkeit.

 

7. Eine kritische Gesellschaftsdiagnose als solche ist nicht selbst politische Praxis. Sie ändert als Ansicht nicht umfassend die politische Situation, sie ändert punktuell bei ihren Rezipienten das Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität. Sie schafft unter Umständen Residien der Kritik und der Widerständigkeit im Geiste. In ihren komprimierten Formen gewinnt sie schnell einen elitären (sprachlich-begrifflichen) Charakter. Versteht man dies nicht als (literarisch und moralische) Selbsterhebung, sondern als Ausdruck der Schwierigkeit dem gewohnten Interpretationsrahmen und seinen Begriffen zu entkommen, kann die Gesellschaftsdiagnose dies harmlos eingestehen. Es droht hier allerdings immer ein apolitischer und damit unkritischer Chauvinismus eines literarisch-kulturellen Habitus, der eine gesellschaftskritische Identität verbürgen soll. Das Ziel der Aufrechterhaltung oder Erweiterung eines 'kritischen Bewusstseins' greift auch insbesondere gegenüber den Opfern der attestierten sozialen Missstände immer zu kurz. Allein die Dringlichkeit einer entsprechenden Praxis ermöglicht diese nicht im benötigten Ausmaß. In diesem Spannungsverhältnis zwischen sich selbst genügender Theorie, die droht in Apathie zu enden, und Anpassung der eigenen Diagnose an eine insuffiziente Praxis steht die kritische Gesellschaftsdiagnose.



Manuel Bremer

11/2015